Deutsche Gastronomie: New Yorks neue Bierseligkeit

Frankfurter Allgemeine


Deutsche Gastronomie war in der amerikanischen Metropole lange Zeit im Niedergang. Das hat sich geändert. Jetzt feiert sie eine Rückkehr in neuem Gewand: Jünger, hipper - und ein bisschen multikulti.

Wenn „Mösl Franzi and the Ja Ja Ja’s“ zum Oktoberfest aufspielen, geht es hoch her bei „Zum Schneider“ im New Yorker East Village. Feierwütige könnten auch in die „Koelner Bierhalle“ nach Brooklyn pilgern, wo nicht nur eine Blaskapelle spielt, sondern auch ein Wettbewerb im Maßkrugstemmen auf dem Programm steht. Oder man wagt sich in den brechend vollen Biergarten im „Standard Hotel“ im Meatpacking District. Dort servieren Kellnerinnen in engen weißen T-Shirts, auf die das Oberteil eines Dirndls gedruckt ist. Und selbst in der afroamerikanischen Enklave Harlem gibt es ein mehrwöchiges „Oktobierfest“, veranstaltet vom immens populären Restaurant „Bier International“. Auf eine Wand des einfach eingerichteten Restaurants mit den langen Gemeinschaftstischen aus wiedergewonnenem Holz ist das Wort „Bier“ in mehreren Sprachen gemalt. An der Wand hinter der Bar hängt eine Lederhose.

New York erlebt ein Comeback der deutschen Bierseligkeit, und das nicht nur zu Oktoberfestzeiten. Lange befand sich die deutsche Gastronomie in der amerikanischen Metropole im Niedergang: Von der einstigen deutschen Bastion im Viertel Yorkville an der Upper East Side sind nur das Restaurant „Heidelberg“ und die Metzgerei „Schaller & Weber“ übrig geblieben - beides recht angestaubte Adressen. Dafür gibt es nun anderswo in der Stadt eine deutsche Renaissance.

„Zum Schneider“ war vor gut zehn Jahren das erste einer neuen Generation von Restaurants, die auf ein jüngeres, trendigeres Publikum abzielen. In den vergangenen zwei bis drei Jahren ging es dann Schlag auf Schlag: Im Szeneviertel Williamsburg in Brooklyn sind in kurzer Zeit vier deutsch angehauchte Lokale entstanden. Die im August eröffnete „Koelner Bierhalle“ ist einer der jüngsten Neuzugänge. Als Nächstes kündigt sich an der Lower East Side das „Paulaner NYC, Brauhaus and Restaurant“ an. Von Januar an soll dort für bis zu 250 Gäste Bier vor Ort in eigens aus Deutschland importierten Kupferkesseln gebraut werden, kontrolliert von einem Münchner Braumeister - ein Novum für New York.

Im Schatten der Massenprodukte

„Amerikaner legen immer mehr Wert auf gutes Bier - und das zieht sie in deutsche Lokale“, erklärt Schneider-Eigentümer Sylvester Schneider die Ausbreitung deutscher Gastronomie in New York. Amerika hatte, ausgehend von den englischen Kolonien und den deutschen Einwanderern des neunzehnten Jahrhunderts, früher eine reiche Bierkultur. Der Bundesstaat New York war für den Anbau von Hopfen bekannt. Aber die Prohibition der zwanziger und frühen dreißiger Jahre sorgte für eine Zäsur. Die meisten Brauereien wurden damals geschlossen. Seither dominieren wenige große Brauereikonzerne wie Anheuser-Busch den Markt. Deutsche Bierliebhaber unterstellen Amerikanern deswegen gewaltigen Nachholbedarf. Marken wie Budweiser sind gemeinhin als wässrige Brühe verpönt.

Im Schatten dieser Massenprodukte erleben aber schon seit den achtziger Jahren Spezialitätenbiere einen stetigen Aufstieg, die meist von kleineren amerikanischen Brauereien produziert werden. Dieses Segment entwickelt sich überdurchschnittlich gut - im ersten Halbjahr 2012 stieg das Absatzvolumen nach Angaben des Branchenverbandes Brewers Association um 12 Prozent, während der Gesamtmarkt nur minimal zulegte. Diese Dynamik spielt sich noch auf niedrigem Niveau ab - der Anteil der Spezialitätenbiere am Gesamtmarkt liegt bei weniger als 10 Prozent. Aber es ist eine Entwicklung, die nach Auffassung von Schneider auch den Importbieren und somit der deutschen Gastronomie in New York zugutekommt.

Manchen Gästen geht es freilich nicht nur um Bierqualität, sondern auch um Quantität. In der „Koelner Bierhalle“ müssen sich Vieltrinker nicht mit Maßkrügen begnügen. Es gibt auch die berüchtigten Stiefel, in die zwei Liter passen. Diese „Boots“ sind ein Hit: Eigentümer Andre Jordan erzählt, er habe kürzlich an einem Samstag vierzig Stück davon verkauft. Und wer hier einen Stiefel bestellt, trinkt ihn üblicherweise alleine - anders als in Deutschland, wo das Riesenglas eher reihum gereicht wird.

Nicht nur klischeehaftes Schunkeltum

Das Publikum in der „Koelner Bierhalle“ ist überwiegend amerikanisch. Nur rund 15 Prozent seien Deutsche, schätzt Jordan. Beim Schneider dagegen halten sich Deutsche und Amerikaner in etwa die Waage. Hier werden auch besonders viele deutsche Anlässe zelebriert, von Oktoberfest über Karneval bis zum Adventssingen. „Zum Schneider“ - das die Amerikaner schon mal „Zum-Bar“ nennen - ist für in New York lebende Deutsche außerdem eine Hochburg für das „Public Viewing“ bei internationalen Fußballturnieren. Wenn die deutsche Nationalmannschaft spielt, gibt es schon Stunden vorher riesige Schlangen vor dem Lokal.

Die neuen Vertreter der deutschen Gastronomie setzen indessen nicht nur auf klischeehaftes Schunkeltum. Die Väter von „Bier International“, der Deutsche Chris Pollok und der Senegalese Ousmane Keita, erklären Weltoffenheit zum Programm. Es gibt zwar eine Reihe deutscher Biere, Brezel und Bratwurst. Auf der Speisekarte stehen aber auch Brochettes Dakaroise - Fleischspieße nach Dakar-Art. Dazu gibt es Bier aus Tschechien, der Türkei, Brasilien und sogar aus Harlem. Stammkunden aus Kenia fahren durch die halbe Stadt, weil sie dort das in Nairobi gebraute Tusker bekommen. Tabu sind freilich die großen amerikanischen Biermarken: Ein Gast, der bei „Bier“ kürzlich ein Budweiser bestellte, erntete einen entsetzten Blick des Kellners - und konnte sich nur rehabilitieren, weil er das tschechische Original gemeint hatte.

„Klein-Deutschland“

Kurioserweise greifen nun auch Deutsche ins Geschehen ein, die vor zwanzig Jahren eigentlich nichts mit ihrer Heimat zu tun haben wollten. Der 53 Jahre alte Rudolf „Rudy“ Tauscher, der Mann hinter der Paulaner-Hausbrauerei, gehört zur deutschen Nachkriegsgeneration, die sich kritisch mit der Generation ihrer Väter und deren Rolle im Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat. „Als junger Deutscher im Ausland war ich sensibel für die deutsche Geschichte, die für viele Leute ein wichtiges Thema war“, sagt Tauscher, der nach einer Lehre als Koch und Hotelkaufmann nach Amerika gegangen war.

Tauscher machte rasch Karriere und arbeitete mit 25 Jahren in einem Fünf-Sterne-Hotel im texanischen Dallas. Nach Stationen in Pforzheim und Pretoria kam er 1995 nach New York. Dort stand er zehn Jahre lang an der Spitze des Nobelhotels Mandarin Oriental unweit des Central Park, wo Gäste durchschnittlich 800 Dollar je Nacht zahlen. Diese Luxuswelt hat der mit einer Amerikanerin verheiratete Tauscher nun für sein Paulaner-Projekt aufgegeben. „Ich wollte eigentlich schon immer eine eigene Brauerei aufmachen“, sagt der bodenständig wirkende Unternehmer. Die nötigen Kenntnisse bringt er mit. Seine Familie führt seit 1847 die kleine Kronen-Brauerei in Tettnang am Bodensee. Für den Standort des „Paulaner Brauhaus“ hat er das Viertel Bowery an der Lower East Side gewählt. Die Gegend war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Klein-Deutschland“ und für eine ganze Reihe von Biergärten bekannt.

Ein Stück weit geht es Tauscher auch um die Bewältigung der jüngeren deutschen Vergangenheit. Die Speisekarte soll Reverenzen an die deutsch-jüdischen Einwanderer enthalten, die damals in der Bowery Fuß fassten. Tauscher wird Gerichte wie Matzeknödelsuppe servieren.

„Damals war es nicht hip, Deutscher zu sein“

Chris Pollok, der aus der gleichen Generation wie Tauscher kommt, ist mit „Bier International“ ebenfalls zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Als er vor mehr als 20 Jahren nach New York ging, arbeitete er zunächst in einer Werbeagentur als Texter. „In dieser Zeit habe ich kaum noch Deutsch gesprochen. Damals war es nicht hip, Deutscher zu sein“, erzählt Pollok. Er habe sich sogar einmal als Schweizer ausgegeben. Heute verleugnet der Krefelder seine Herkunft nicht mehr. Mit seiner fünfjährigen Tochter spricht er Deutsch und schickt sie nach der Schule noch in deutschen Sprachunterricht.

Sein 44 Jahre alter Geschäftspartner Keita hatte dagegen ein viel unkomplizierteres Deutschland-Bild. „Wir haben als Kinder in Dakar immer viel Bundesliga-Fußball geguckt, und meine Lieblingsserie war ,Derrick‘“, erzählt er. In New York hat Keita dann eine persönlichere Beziehung zu Deutschland entwickelt. Er ist seit 13 Jahren mit einer Deutschen verheiratet. Keita, der für ein Finanzstudium nach New York kam und dann in die Restaurantbranche wechselte, machte sich 2000 zusammen mit Pollok im East Village mit einer inzwischen geschlossenen Weltmusik-Lounge selbständig - praktisch gegenüber vom „Schneider“. Die beiden hatten zunächst vor, ein ähnliches Etablissement im aufstrebenden Harlem aufzumachen, änderten dann aber ihren Plan und eröffneten im August 2010 ihr Biergarten-Restaurant - das erste seiner Art in der Gegend.

Der Aufstieg deutscher Gastronomie hat nach Ansicht von Pollok auch etwas mit einem veränderten Deutschland-Bild unter Amerikanern zu tun. Die FußballWeltmeisterschaft 2006, die den Deutschen in vielen Teilen der Welt Sympathiepunkte gebracht hatte, habe auch in Amerika einen bleibenden positiven Eindruck hinterlassen. Entsprechend begeisterungsfähiger seien Amerikaner heute für alles, was mit Deutschland zu tun hat, auch für deutsche Restaurants.

„Wir sind in eine echte Marktlücke gestoßen“

Allzu viel „Oompah“, wie Amerikaner deutsche Blasmusik nennen, wollen manche der Wirte ihren Gästen aber nicht zumuten. Bei „Bier International“ spielte kürzlich zwar eine Blaskapelle. Die Band bezog ihre musikalischen Einflüsse aber auch aus New Orleans und Osteuropa. Ansonsten lassen Pollok und Keita ihrer Liebe zur Weltmusik freien Lauf. Es treten auch westafrikanische Kora-Spieler und amerikanische Jazz-Musiker auf.

Sylvester Schneider, der Pionier im East Village, hat sein Lokal einst noch aus Heimweh aufgemacht. Er stammt aus Weßling in der Nähe von München und kam 1990 mit dem Vorsatz nach Amerika, Musik zu studieren und „Rockstar“ zu werden. Tatsächlich studierte er einige Semester lang, schmiss aber hin, als er Vater wurde. Er schlug sich in New York mit Jobs am Bau durch, aber das Geld war knapp. Auf der Suche nach Ideen, wie er sein Einkommen aufbessern könnte, fiel ihm ein, wie sehr er die Biergärten seiner Heimat vermisste. Er fragte sich, ob so etwas auch in New York funktionieren könnte. Er fand einen Standort in der Nähe seiner Wohnung in einem damals noch ziemlich schäbigen Teil des East Village, besorgte sich Startkapital von seinem Onkel, und im August 2000 ging es los. Es war zunächst alles etwas improvisiert - am Anfang fehlte sogar das Glas in den Fenstern -, aber der „Schneider“ fand schnell sein Publikum. Die Lokalpresse interessierte sich für ihn. Eine Besprechung in der „New York Times“ war eine Art Durchbruch: „Von da an war hier so richtig die Hölle los“, sagt Schneider. Ihm habe auch geholfen, dass die New Yorker Restaurantszene vorher arm an deutschen Adressen war. „Wir sind in eine echte Marktlücke gestoßen.“

In ganz anderer Position als Schneider war der 44 Jahre alte Andre Jordan mit seiner „Koelner Bierhalle“, nicht nur weil die Konkurrenz heute viel größer ist. Jordan hatte vorher eine gut bezahlte Anstellung, er kam als Wertpapierberater bei der Bank Morgan Stanley auf ein sechsstelliges Jahresgehalt. Deutsche Gastronomie drängte sich für ihn nicht gerade auf: Er stammt aus Guyana, spricht kein Deutsch und ist nach eigenem Bekunden „eigentlich kein Biertrinker“. Aber er wollte weg von der Wall Street und sich selbständig machen. Mit Dale Hall, einem Briten, der viele Jahre in Köln gelebt hatte, schmiedete Jordan Pläne für ein Lokal, das auf Bierkenner abzielt. Sie wollten Biere anbieten, die man sonst kaum in der Stadt oder sogar im ganzen Land findet. Jordan und Hall, der schon Erfahrung mit einer anderen deutschen Kneipe in New York hatte, verbrachten zwei Jahre damit, die deutsche Brauereilandschaft nach solchen Raritäten auszukundschaften. Das Lokal schenkt jetzt Biere vom Kölner Brauhaus Sion oder von der Bayreuther Maisel-Brauerei aus. Essen spielt nur eine Nebenrolle: Die Speisekarte besteht vor allem aus diversen Würsten. „Unser Schwerpunkt ist ganz klar das Bier“, sagt Jordan.

Dirndl aus dem Halloween-Laden

Schneider betreibt deutlich mehr Aufwand in seiner Küche, das Angebot reicht von Schnitzel bis Schweinshaxe. Essen ist für ihn ein zentraler Teil des Konzepts und steuert die Hälfte zum Umsatz bei. Trotzdem lasse die wachsende Popularität deutscher Gastronomie in New York nicht auf eine neu entdeckte Vorliebe für deutsches Essen schließen, meint Schneider. Der Trend sei eher vom Bier als vom Essen getrieben. „Sicher hat die deutsche Küche ein Publikum, aber es wird nicht unbedingt größer. Deutsches Essen ist schwer und deftig, und das passt nicht gerade zum Gesundheitstrend in der Stadt.“

Die zunehmende Verbreitung deutscher Lokale in New York beobachtet der 48 Jahre alte Restaurateur mit einigem Unbehagen. Seine Umsätze sind angesichts der stärkeren Konkurrenz geschrumpft. Außerdem fürchtet er, dass die Authentizität auf der Strecke bleiben könnte. Manche Neuzugänge seien zwar eine Bereicherung, andere kämen ihm vor wie „Disneyland“. „Da laufen Bedienungen mit Dirndln rum, die man im Halloween-Laden kaufen kann.“ Beklagen will er sich dennoch nicht: Das Geschäft sei noch immer solide, auch wenn das Lokal nicht mehr regelmäßig zum Bersten gefüllt sei wie früher. Schneider stellt sich erst einmal auf noch mehr Wettbewerb ein: „Bisher scheint es den meisten neuen Lokalen gutzugehen, deswegen werden auch noch mehr aufmachen. Aber irgendwann wird sich das bestimmt ausreizen.“

Paulaner-Macher Tauscher sieht noch reichlich Potential in New York und anderen amerikanischen Städten. Er hat einen exklusiven Lizenzvertrag für die ganze amerikanische Ostküste abgeschlossen. Finanziert wird die erste Investition mit 5 Millionen Dollar, die aus seinen eigenen Mitteln, aber überwiegend von vermögenden deutschen Privatleuten stammen. Wenn es in New York gut läuft, will er in den kommenden fünf bis zehn Jahren 30 bis 40 solcher Paulaner-Hausbrauereien eröffnen. „Mein Ziel ist, Paulaner in Amerika aufzubauen“, sagt Tauscher.