Frankfurter Allgemeine
by Patrick Bahners
Es ist eine kalendarische Fügung, dass die Steuben-Parade in diesem Jahr am Tag vor der Bundestagswahl stattfindet. Genauer muss man umgekehrt sagen: Die Bundestagswahl findet am Tag nach der Steuben-Parade statt. Den Umzug von Vereinen zur Pflege deutscher Traditionen gibt es in New York seit 1957, dem Jahr, als CDU und CSU bei der Wahl zum 3. Deutschen Bundestag die absolute Mehrheit der Wählerstimmen errangen. Das Motto der Kampagne von Bundeskanzler Konrad Adenauer: Keine Experimente. Der dritte Samstag im September ist im New Yorker Festkalender für die Deutschamerikaner und ihre Freunde reserviert. Die Fifth Avenue wird zwischen 61. und 86. Straße für den Autoverkehr gesperrt. Wenn man sich als Zuschauer im südlichen Teil des Festbezirks einen Platz auf der rechten Straßenseite sucht, bildet der Central Park die grüne Kulisse des Festzugs, erscheint die deutsche Kultur als die fortgesetzte, beharrliche, mit Handwerkerfleiß und allerbestem Willen vorangetriebene, wenn auch immer wieder abreißende Bemühung, sich von einer Natur abzuheben, auf deren Güte man weiterhin vertraut.
Drei Persönlichkeiten, denen die Organisatoren Verdienste um die deutsch-amerikanische Freundschaft zuschreiben, dürfen sich mit dem Titel eines Grand Marshal der Steuben-Parade schmücken und eine blaue Schärpe mit Goldrand umhängen. 2007 erwies Henry Kissinger uns die Ehre, diese Ehrung anzunehmen. In diesem Jahr ist das Kaliber nicht so groß: Die Marschälle sind der Fußballer Werner Roth, einst Kapitän von Cosmos New York, der Bierbrauer Christian Dinkelacker, Aufsichtsratsvorsitzender der Stuttgarter Kickers, und Harald Leibrecht, der Koordinator der Bundesregierung für die transatlantischen Beziehungen. Leibrecht ist Bundestagsabgeordneter der FDP und weiß schon am Tag vor der Wahl, dass er aus dem Parlament ausscheiden wird. Er hat auf eine neue Kandidatur verzichtet.
Die Privilegien der Großmarschälle sind nicht so groß, wie der Titel vermuten lassen könnte. Ein Marschall darf nicht etwa dem Fußvolk in einem Mercedes vorausfahren und sich zujubeln lassen. Die Ehrengäste gehen zu Fuß und damit mit gutem Beispiel voran. Integration, das ist eine der Botschaften des öffentlichen Rituals der Parade, das fast alle ethnischen Gemeinschaften New Yorks pflegen, ist belohnte Ausdauer. Vom Staatsmann hat Leibrecht das Silberhaar und die stattliche Statur. Seine Schärpe hängt nicht schlaff herunter, sie wölbt sich wie das Staatssegel im Wind guter Konjunkturzahlen. Gleich hinter der Gruppe der Honoratioren beginnt der Wahlkampf. Wie das? Als Deutscher im Ausland muss man doch bis zum 1. September seinen Antrag auf Eintragung ins Wählerverzeichnis gestellt haben. Wird hier das Wort Richard Wagners in die Tat umgesetzt, deutsch sei es, die Sache, die man treibe, um ihrer selbst willen zu treiben?
Aber es sind nicht Junge Liberale aus dem Tross des Abgeordneten Leibrecht, die die Schaulustigen hinter den Absperrgittern ansprechen, weil sie keine Stimme zu verschenken haben. Die ältere Dame im eleganten Trachtenkleid hat ein Schild in der Hand, das für Joe Lhota wirbt, den republikanischen Kandidaten für die New Yorker Bürgermeisterwahl im November. Lhota marschiert in der letzten Reihe der Honoratioren mit. Er fällt nicht weiter auf, und es ist völlig ungewiss, ob diese Unauffälligkeit im Wahlkampf gegen den demokratischen Volkstribun Bill De Blasio für Lhota Handicap oder Trumpf sein wird. Sind die New Yorker wirklich die Managementmethoden müde, die der Amtsinhaber Michael Bloomberg in die Stadtregierungsgeschäfte einführte, oder nur die Allüren, die Bloomberg sich wegen seines Reichtums leisten konnte?
Lhota strahlt bärtige Kompetenz der grimmigen Spielart aus, er war Chef der New Yorker Verkehrsbehörde und könnte auch einen sozialhistorischen Sonderforschungsbereich leiten, einen Sparkassenverband oder die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament. Man möchte auf einen Anteil von 99,5 Prozent deutschem Blut in seinen Adern tippen, aber bei der Recherche im Familienarchiv hat er unter seinen Vorfahren lediglich Tschechen, Russen, Engländer, Italiener sowie ein paar Iren gefunden. Da würde wohl auch die German Genealogy Group mit ihren lustigen schwarzrotgoldenen Hüten vergeblich graben.
Auch Lhota trägt eine blaue Schärpe, aber ohne Goldrand, ist kein Marschall, sondern lediglich eine Art Fähnrich. Seine Wahlhelferin ruft jedem einzelnen Zuschauer ein herzliches „Grüezi“ zu. Sicherheit, Verlässlichkeit, Präzisionsarbeit: Wir müssen damit leben, dass trotz allen steuerdiplomatischen Konflikten die Schweizer in Amerika immer noch als die besseren Deutschen gelten.